Leben mit MPN

Zu viel Blut «im Tank»
Im Juni 2018, kurz vor seinem 50. Geburtstag, wird bei Marcel Steiner* eine lebensbedrohliche Erkrankung der blutbildenden Zellen im Knochenmark festgestellt.

Das Unheil kündigte sich leise an. Nach einer beruflichen Veränderung sei er im Sommer 2013 einfach nicht mehr richtig in die Gänge gekommen, erzählt Marcel Steiner an Wohnzimmertisch seines Reiheneinfamilienhauses, das er zusammen mit seiner Partnerin bewohnt. Neben Nachtschweiss und ständigen Gliederschmerzen habe er bereits bei der kleinsten körperlichen Belastung heftiges Herzrasen bekommen, erinnert sich der gross gewachsene, schlanke Mann. Da jedoch sowohl ein Belastungs-EKG als auch neurologische Untersuchungen keinen Befund ergeben haben, sei man davon ausgegangen, dass sich die Beschwerden mit der Zeit wieder legen würden.
Eine Annahme, die sich nicht bewahrheiten sollte. Es folgten weitere Termine und Untersuchungen bei diversen Ärzten. Doch erst Anfang 2018, als im Kantonsspital Baden (KSB) ein Assistenzarzt anlässlich einer Ultraschalluntersuchung festgestellt hat, dass seine Milz auffällig vergrössert ist, sei man der Sache auf die Spur gekommen. Wenige Wochen später folgte eine Knochenmarkpunktion. Es wurden etwas Knochenmark sowie flüssige Bestandteile entnommen und umgehend histologisch untersucht. Bei der anschliessenden Besprechung sei ihm aufgrund der Anwesenheit einer Palliativmedizinerin sofort klar gewesen, dass das Resultat gar nicht gut ist, sagt Steiner. «Die Oberärztin hat mir ohne Umschweife mitgeteilt, dass ich PV, Polycythaemiavera habe, eine seltene, unheilbare Erkrankung der blutbildenden Zellen im Knochenmark.»

Wöchentlicher Aderlass
Die häufigsten Beschwerden bei PV sind sogenannte Mikrozirkulationsstörungen, wie Durchblutungsstörungen an Händen und/oder Füssen, Schwindel, Kopfschmerzen und Sehstörungen (Flimmersehen) sowie Juckreiz, insbesondere nach heissem Duschen oder Baden. Bei vielen PV-Patienten wird ein erhöhter Wert an roten Blutkörperchen festgestellt. Wird dies diagnostiziert, ist es unbedingt notwendig, diesen Wert durch wiederholte Aderlässe abzusenken, um das Risiko von Thrombosen und Embolien zu reduzieren.
Eine Therapie, die auch bei Marcel Steiner zum Einsatz gekommen ist. Während gut zwei Monaten sei ihm einmal pro Woche gut ein halber Liter Blut abgezapft worden, erzählt er. Zusätzlich erhielt der ehemalige ambitionierte Fussballer prophylaktisch eine niedrige Dosis Acetylsalicylsäure (ASS). Zwar habe er sich nach dem Aderlass jeweils «ziemlich blutleer» gefühlt; doch ansonsten habe sich sein Gesundheitszustand dank diesen Massnahmen deutlich verbessert.
Ab März 2022 verschlechterten sich Marcel Steiners Blutwerte wieder. Seither reichen die regelmässigen Aderlässe nicht mehr aus, um die überbordende Blutbildung zu regulieren. Steiner: «Es fühlt sich manchmal an, als ob ich zu viel ‹Druck im System› hätte.»
Zwecks Reduzierung der Zellzahlen wird Steiner mit einem Zytostatikum therapiert, das die Funktion des Knochenmarks einschränkt und so die Zahl der Blutzellen reduziert. Mögliche Nebenwirkungen des Medikaments sind Haarausfall und Hautveränderungen. Symptome, die auch bei ihm aufgetreten seien, berichtet Steiner. Zudem habe ihn das Medikament unglaublich müde gemacht, weshalb er die Einnahme auf den Abend verschoben habe.
Um sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können, hat sich Steiner direkt nach der Verordnung der Zytostatika beim deutschen Selbsthilfeforum mpn-netzwerk.de angeschlossen. Derzeit ist er daran, in der Schweiz eine entsprechende Selbsthilfegruppe aufzubauen (www.selbsthilfe-ag.ch).
Doch zurück zur Müdigkeit. Die chronische Müdigkeit (Fatigue) sei im Grunde genommen die schlimmste Auswirkung seiner Krankheit und beeinflusse sein Tagesgeschehen am meisten, sagt Steiner. Zudem sei er sehr anfällig auf Infektionen. Ansonsten sei sein Gesundheitszustand – Stand heute – stabil. Die Blutwerte seien im Rahmen, und auch die Leberwerte hätten sich, seit er zusätzlich ein Mariendistel-Präparat einnehme, deutlich verbessert. In den Worten von Steiner: «Die 70 bis 80 Prozent von heute sind die 100 Prozent von gestern.»
*Name geändert

Polycythaemia Vera (PV) ist eine seltene Erkrankung der blutbildenden Zellen im Knochenmark. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass zu viele Blutzellen gebildet werden, insbesondere Erythrozyten (rote Blutkörperchen), aber auch Thrombozyten und Leukozyten. Eine Veränderung im Erbgut, die «JAK2-Mutation», ist mit diesem Krankheitsbild assoziiert. Mehr als 90% der PV-Patienten sind davon betroffen.

Die Therapie der PV ist darauf ausgerichtet, die Beschwerden zu lindern und Komplikationen zu vermeiden. Zum Einsatz kommen zytoreduktive Medikamente (sie hemmen die Zellteilung) und die Entfernung von übermässigen Blutzellen mittels Aderlass.

M. 1968

Beitrag erstellt von Markus Kocher, Journalist

Mein Motto immer: stay positive! Vor ca. 20 Jahren wurde bei mir Polyzythämia Vera (PV), diagnostiziert. Die Diagnose erfolge auf Grund einer generellen Untersuchung, damals war ich knapp über 50 Jahre alt. Mein Blutbild war schlecht, hauptsächlich zuviele Thrombozyten, diese lagen über 600.000. Eine Knochenmarkbiopsie hat dann bestätigt, dass ich an PV erkrankt bin.

Wenn ich zurückdenke, komme ich zum Schluss, dass ich die Krankheit schon längere Zeit hatte. Anfang meiner 30er-Jahre konnte ich von einem Tag auf den anderen keinen Kaffee und auch keine Cola mehr trinken. Meine Leber vertrug beides nicht mehr. Gleichzeitig bekam ich öfters Schmerzen in den Füssen, die sich am Bein bis in die Hüfte hochzogen, sehr starke, stechende Schmerzen. Nur durch die Einnahme von Aspirin ging der Schmerz innert wenigen Minuten weg. Meine Ärzte machten alle möglichen und unmöglichen Tests, aber niemand fand den Ursprung der Schmerzen. Erst Jahrzehnte später hat mir mein Hämatologe gesagt, dass es sich um eine Erythromelalgie handle. Diese Krankheit ist meist ein Anzeichen dafür, dass man im Laufe des Lebens an einer Myeloproliferativen Neoplasie, einer MPN, erkranken wird. Leider war der Hämatologe, der mich am Anfang behandelte, kein Spezialist für MPN und durch eine nicht korrekte Behandlung bekam ich eine Thrombose im Bein. Zum Glück blieb der Thrombus in der Vene stecken und konnte im Spital korrekt behandelt werden. Da ich während der Behandlung kein Aspirinund nur Ibuprofennehmen durfte, konnte ich die Erythromelalgie nicht ganz kontrollieren und meine Füsse bekamen lila Flecken. Selbst im Spital wusste man nicht, was da passierte. Erst mein neuer Hämatologe kam mit der richtigen Diagnose. Nachdem ich wieder Aspirin (zuerst 200 mg, dann 100 mg) nehmen durfte, verschwand die Erythromelalgie und ist auch bis heute nicht mehr zurückgekommen.

Seit meiner Diagnose habe ich versucht, dass die PV mein Leben nicht dominiert. Ich war von Anfang an überzeugt, dass ich auch mit der Krankheit ein normales Leben führen kann. Ich habe das Glück, ein sehr positiver Charakter zu sein und hatte bis heute nur wenige Probleme (keine Müdigkeit und fast keinen Juckreiz) mit der Krankheit hatte. Ich bin überzeugt, je positiver man ist und denkt, umso besser kann man Schwierigkeiten überwinden. Zudem gibt uns unser Gehirn die Möglichkeit, mit unserem Körper zu kommunizieren und damit positive Reaktionen auszulösen.

Mit meinem neuen Hämatologen bekam ich die Krankheit unter Kontrolle, mit regelmässen Aderlässen hielten wir den Hämatokrit niedrig. Als ich 60 Jahre alt wurde, wollte mein Arzt mit Hydroxyurea beginnen. Da ich mich jedoch bestens fühlte, war ich dagegen und habe erst im Alter von 68 Jahren angefangen Hydroxyurea zu nehmen, hauptsächlich weil meine Milz zu gross wurde. Auch hier hatte ich das Glück, dass das Medikament bei mir keine Nebenwirkungen auslöste und alle meine Blutwerte gingen auf normales Niveau zurück.

Ich bin überzeugt, dass ich mit Hilfe meines Hämatologen die Krankheit weiter kontrollieren werde und mein normales Leben weiterführen kann. Mir ist bewusst ist, dass es sich um eine Krankheit handelt, für die es bis jetzt noch keine Heilung gibt. Aber das Leben kommt ja auch so einmal zu einem Ende und wir alle müssen das akzeptieren. Geniessen wir also das Leben, solange wir können. Stay positive!

Peter 1945

Ich bin 55 Jahre alt, stamme aus Nord London und vor 18 Jahren hat man bei mir die Essentielle Thrombozythämie (ET) diagnostiziert. Unter der Kontrolle meines Arztes habe ich Interferon Alpha genommen und dies hat meine Blutwerte bestens kontrolliert. Heute führe ich ein total normales Leben – was auch immer das bedeutet.

Meine Geschichte beginnt im Februar 1998. Ich kam gerade von einer Reise aus den USA zurück und wachte am Sonntag mit einem steifen Rücken auf. Nach einer sehr warmen Dusche fühlte sich mein Rücken viel besser an. Ich verspürte jedoch eine Lähmung meiner rechten Seite und konnte nicht richtig gehen und meine rechte Hand konnte nichts festhalten. Nach einer halben Stunde wurde es nicht besser und ich entschied mich in die Notaufnahme zu gehen. Die Diagnose vom Arzt war: »Keine Angst, Sie haben keinen Herzanfall gehabt, aber ich schicke Sie zu einem Neurologen um sicher zu sein.

«Der Neurologe empfahl mir einen Scan zu machen. Die nächsten 24 Stunden waren die schlimmste Zeit für mich, ich hatte furchtbare Angst zu erfahren, dass ein Schaden in meinem Gehirn entstanden ist und befürchtete gar einen Hirntumor. Der Neurologe bestätigte mir schliesslich, dass ich einen kleinen Schlaganfall hatte. Die betroffene Stelle war so gross wie ein Golfball und wurde höchst wahrscheinlich durch ein Blutgerinnsel verursacht. Dies gab mir zwar eine Erklärung für die Symptome, nicht aber für den Ursprung des Gerinnsels. In den folgenden Wochen unterzog ich mich unzähligen Tests. Schliesslich stellte ein Arzt fest, dass meine Blutwerte nicht normal sind und schickte mich zu einem Hämatologen. Dieser bat sofort um eine Knochenmarkbiopsie (KMB).

Am Tage nach der KMB erhielt ich die Diagnose Essentielle Thrombozythämie. Der Facharzt erklärte mir, warum ich diese Probleme habe, welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt und wie die Langzeitprognose aussieht. Die grösste Erleichterung war zu erfahren, warum ich den Schlaganfall hatte. Nach der Diagnose zog ich mich zuerst komplett zurück, meine Familie fühlte sich ausgeschlossen; das geschah natürlich nicht absichtlich. Auch für meine Angehörigen war die Diagnose traumatisch.

Schliesslich erfuhr ich, dass mit ich mit der richtigen Behandlung und Kontrolle eine normale Lebenserwartung haben kann. Obwohl es mich etwas nervös machte, mir selbst Injektionen geben zu müssen, kam ich zum Schluss, dass Interferon die beste Lösung ist. Wir sprachen auch über Anagrelide und Hydroxyurea, die Nebenwirkungen beunruhigten mich jedoch. Den Ausschlag für Interferon gab primär die grosse Chance, dass ich mit der Zeit praktisch ohne das Medikamente leben kann. Die Nebenwirkungen von Interferon, wie Grippegefühl und Schüttelfrost, lassen sich leicht mit Paracetamol kontrollieren. Innert weniger Monate haben sich meine Blutwerte normalisiert und sind stabil geblieben. Mit der Zeit haben wir die Interferon-Dosis reduziert. Persönlich ziehe ich die geringe Dosis dem kompletten Absetzen vor. Ungefähr ein Jahr nach der Diagnose und Beginn der Behandlung mit Interferon, hatte ich eine Phase mit starkem Hautreiz, eine Nebenwirkung die bei vielen MPN Patienten vorkommt. Ich hatte diese, auch typisch, an Beinen, Armen, Bauch usw. Nachdem eine UV-Behandlung keine Besserung brachte, riet mir ein Hämatologe das Shampoo Polytar und die Seife E45 Emollient Cleanser zu verwenden, was den Juckreiz verminderte. Ich mache zudem alle zwei oder drei Monate meinen Bluttest in der Klinik, was für mich immer eine positive Erfahrung ist und die ärztliche Betreuung stärkt mir den Rücken.

Es mag komisch klingen, aber ich glaube, dass ich sehr viel Glück hatte, weil der Schlaganfall keine bleibenden Schäden verursacht hat. Ich bin glücklich, dass ich Interferon so gut vertrage und ich so gut auf diese Behandlung angesprochen habe. Wie bei den meisten MPN Patienten geht die Story weiter, meine stabile Periode wird nicht für immer anhalten. Wir werden dann auch die neue Situation meistern!

Jon 1970